Ein Sportblogger, der auf ein Champions-League-Viertelfinale zwischen Bayern und Inter live verzichtet (oder wenigstens live am Fernseher) und lieber mit der lieben Schwester in die Isarphilharmonie pilgert? Das muss Gründe haben. Der Grund lautete: Tschaikowskis 1. Klavierkonzert und nach der Pause quasi zum Drüberstreuen Beethovens 5. Symphonie. Was diese beiden Meisterwerke eint: jeweils der unfassbare Auftakt, den niemand vergisst, der ihn jemals gehört hat. Hier „da da da damm, Zack!!!“ dort „ Da, da, da, Daaa!
Mehr und bekannter geht kaum in der Klassischen Musik, und wenn dann noch die höchstgelobte und mit Preisen überhäufte Pianistin Julianna Adveewa sich die Ehre gibt, gibt es halt keine Alternative, auch nicht Bayern vs Inter, geschweige denn Arsenal vs Real Madrid.

Tschaikowskis Klavierkonzert, das ist so etwas wie der Heilige Gral für jeden Pianisten (ja, es gibt noch den Liszt und den Rachmannimow). Schon der 1. Satz eine Herausforderung, die eine unglaubliche Fingerfertigkeit verlangen. Dabei muss es richtig scheppern, und bei Julianna Avdeewa und dem Orchestra Svizzera schepperte es, so dass es (gegen alle Konzertbesucher-Usancen) schon nach dem 1. Satz vereinzelt Beifall gab. Doch das alles ist kein Vergleich zum 3. Satz, der mit den eigentlich unspielbaren Oktav-Akkorden, je schneller und chaotischer, desto besser. Meine  geburtstagsbeschenkte Schwester Henriette erzählte mir die schöne Anekdote des legendären Pianisten Wladimir Horowitz (der allerbeste?) und dem nicht minder legendären Dirigenten Alberto Toscanini. Dieser ließ seinen Schwiegersohn (vielleicht aus Rache für die Ehelichung seiner Tochter?) die Passage 40-mal üben. Danach beherrschte Horowitz das Stück zwar (wobei hier nicht von Beherrschen im Sinne von fehlerfrei spielen die Rede sein kann, sondern vielmehr „irgendwie einen irrwitzigen Weg durch den unspielbaren Dschungel“ finden nach dem Motto: je mehr Fehler, desto lieber). Danach war Horowitz aber reif fürs Irrenhaus; und zwar nicht nur symbolisch, vielmehr ließ sich der Sage nach tatsächlich in ein solches einweisen.
Julianna Avdeewa wagte sich also an diese gigantische Aufgabe, und sie bewältigte sie meisterhaft. Allerdings ein bisschen zu brav, wie die Kritikertochter Henriette gegenüber dem Kritikersohn Philipp befand. Sprich, Avdeewa habe versucht, möglichst fehlerfrei zu spielen und sei deshalb etwas zu langsam gewesen (dieses Höllen tempo zu langsam? Wirklich??). Aber doch sehr, sehr gut, räumte H. ein, und das bezeugte auch der tobende Beifall des begeisterten Publikums in der nicht ganz ausverkauften Philharnmonie. Warum sich die 39-jährige Russin angesichts dieses fulminanten Stückes in einen eher braven, apricot-farbenen und auch noch viel zu weit geschnittenen Hosenanzug gekleidet hatte, war für uns nicht zu eruieren. An der Kostüm-Beratung muss die fantastische Klavierspielerin also noch ein wenig feilen. Das farbenfrohe Violett, in dem sie aus dem Programmheft lächselte, hätte viel besser gepasst.
Nach dem grandiosen Tschaikowski gab Andreewa noch zwei bezaubernde Zugaben, die allerdings weder ich noch H. erkannten. Unser Papa hätte es bestimmt gewusst, seufz … In einem waren wir uns bei der Heimfahrt einig: Diese Juliana Avdeewa werden wir im Auge behalten.

Was bleibt einem Konzertveranstalter nach dem unfassbar tollem Tschaikowski nach der Pause übrig an Programm?München Music entschied sich für den vielleicht größten Gassenhauer der Klassik:  Beethovens ikonische Fünfte, und doch blieb manch vorher besetzter Platz leer, der Fußball? Jetzt durfte das tolle Ensemble Swizzera Italiana aus Lugano seine große Klasse zeigen (die natürlich auch schon beim Tschaikowski zu hören war). Ich persönlich mag ja den 2. Satz der „Fünften“ noch lieber als den berühmten ersten, und so gut habe ich ihn noch selten gehört, das Live-Erlebnis? Dirigent Markus Poschner ist ein gebürtiger Münchner, der dieses Ensemble mit 41 fest angestellten Musikern seit 2015 leitet, und die daraus entstehende Harmonie war förmlich spürbar, auf jeden Fall hörbar.

Ein absolut lohnender Klavier-Abend, und ich darf jeden beruhigen: Zu Hause wieder angekommen, konnte ich ungespoilert (erstaunlicherweise) relive mir FC Bayern vs Inter und die unglaubliche und doch unvollendete Thomas-Müller-Saga zu Gemüte führen.