Warum die Champs Champs sind

Erst Real Madrid, dann Novak Djokovik: Samstagabend bis früh in die Nacht durfte der Sportfan mal wieder erleben, dass die wahren Champs wirklich erst dann geschlagen sind, wenn der Schlusspfiff ertönt  oder der Matchball gespielt ist. Leidtragende waren erst Borussia Dortmund und Lorenzo Musetti: Überlegen, doch letztlich den Sack nicht zumachend und am Ende überrollt.

Wer die Chancen nicht nutzt …

Was war das für eine erste Halbzeit des BVB. Praktisch an die Wand spielten die Borussen die Königlichen von Real Madrid, allein es fehlten die Tore. Die beste Chance vergab Karim Adeyemi nach brillantem Zuspiel von Mats Hummels, der jedem Vergleich zum Toni-Kroos-Traumpass gegen die Bayern standhält (did you see that, Mr. Nagelsmann?). Doch er konnte Real-Torwart Thibault Courtois nicht überwinden. Wie überhaupt der Belgier, der nach seinem Kreuzbandriss sein erstes CL–Spiel in dieser Saison bestritt, eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte und den Dortmundern den Zahn zog. Außerdem war es fast tragisch, wie wirkungslos die Borussen-Ecken verpufften. Und so ließen die Madrilenen das Angriffs-Feuerwerk, leider aus Borussensicht nicht effizient abgeschlossen über sich ergehen mit dem Wissen, ja Wissen!, dass sie das schon überstehen würden. Da fällt mir ein wenig besserwisserisch ein: Wenn Experten und andere von nicht effektiv sprechen, meinen sie „nicht effizient“. bastian Sick und viele andere haben sich darüber schon länger ausgelassen.

Und fast erwartbar sollte sich der Chancenwucher rächen. Nach der Pause und wahrscheinlich ein paar sehr klaren und treffenden Worten von Trainer Carlo Ancelotti gab es halt dann nicht mehr die sperrangelweiten Real-Lücken in der Abwehr. Mit zunehmender Spieldauer kippte das Geschehen in Richtung Madrid. Und dann zeigte Toni Kroos, wie man eine Ecke schlägt. Scharf und und punktgenau auf den Kopf von Daniel Carvajal, und der nur 1,73 Meter große Verteidiger (ehemals Bayer LeverkusenI überwand Gregor Kobel. Danach zeigte Real seine ganze Königsklassen-Klasse, setzte die Borussen enorm unter Druck sodass Fehler nicht ausblieben. Einen grausamen Fehlpass von Maatsen in der eigenen Hälfte nutzte letztlich Vinicius jr zum 2:0, die Entscheidung, zumal Niklas Füllkrug bei seinem vermeintlichen Anschlusstreffer knapp aber doch eindeutig im Abseits stand.
So durfte Toni Kroos in seinem letzten Real-Spiel sich mit dem insgesamt 6. Champions-League-Titel krönen, so viele hat nur der große Francisco Gento und außerdem auch der gestern eingewechselte Luca Modric.

Die Auferstehung des Djokers

Zum 27. Mal: Ich bin kein Fan von Novak Djokovic, im Gegenteil, ich mag ihn nicht, wegen seiner Art, seiner endlosen Balltipperei beim Aufschlag. Aber ebenfalls zum 27. Mal: Aus für mich leidvoller Erfahrung weiß ich, dass der Serbe wirklich erst bei einem vom Gegner verwandelten Matchball geschlagen ist (Federer Wimbledon-Finale 2019, ein Albtraum). So auch heute Morgen beim faszinierendem Drittrundenspiel der French Open gegen einen zeitweise brillanten Lorenzo Musetti. Die Partie begann aufgrund der Wetterkapriolen erst um 22.40 Uhr Pariser Zeit und endete weit nach 3 Uhr nachts nach mehr als 4 Stunden Spielzeit. Musetti hatte nach verlorenem ersten Satz sich die beiden nächsten Sätze geholt. Da sah Djokovic wie ein wandelnder Leichnam aus, schlurfte nur über den Platz, vermeintlich sich ergebend. „Am Rande einer Niederlage“ sei er, konstatierte Wolle Nadvornik am Eurosport-Mikrofon, und jeder wird diesen Eindruck gehabt haben – wenn es halt nicht der Djokovic wäre.
Und dann? Drückte der Serve den Turbo-Boost wie einst Michael Knight bei bei seinem Wunderauto KITT, der irgendwo in seinem Körper versteckt sein muss. Quasi von einer Sekunde auf die andere war da plötzlich ein springlebendiger Djokovic auf dem Platz, als sei es nicht weit nach Mitternacht, als seien nicht mehr als drei Stunden gespielt. Beim Stand von 2:2 im 4. Satz gelang ihn ein Break, und danach gab es den  besten Djokovic in diesem Jahr, das für ihn bisher so gar nicht laufen wollte. Musetti spielte weiter großartig, doch Djokovic agierte in eigenen Tennis-Sphären, praktisch fehlerlos. Ich streiche für den letzten Satz das „praktisch“. Er verwandelte den ersten Matchball nach 4:32 Stunden, es war 3:20 Uhr. Genau ein Game sollte er in dieser  Zeit trotz erbitterter Gegenwehr von Musetti abgeben. So endete der 5. Satz 6:0, dauerte aber auch 37 Minuten, also gut 6 Minuten per Game. Klar, auch weil es die Spieler mit der Gameclock nicht mehr ganz so genau nahmen. So feierte Djokovic ausgelassen, Musetti bleibt die Ehre, ein großes Spiel geliefert zu haben. Mit einem Sieg hätte er  seinem italienischen Landsmann Jannik Sinner zur Nummer 1 der Weltrangliste verholfen. Der muss das jetzt selbst hinkriegen, indem er wenigstens das Halbfinale in Paris erreicht.

Für Djokovic geht die Reise weiter, und vielleicht war genau dieses Spiel der Schlüssel zu einem doch noch erfolgreichen Jahr. Er hat eindrucksvoll gezeigt, dass er es noch kann, die Frage ist jetzt halt, wie er diesen Kraftakt zu dieser sehr späten Zeit wegsteckt und ob er so was wiederholen kann. Morgen trifft er im Achtelfinale auf den Argentinier Francisco Cerundolo, wir dürfen gespannt sein. Ich persönlich befürchte allerdings bei allem Respekt, dass das eine eher leichte Aufgabe für ihn wird.

 

Torwart – der Höllenjob

Das war es mit Wembley reloaded. Nachdem der BVB auch das Rückspiel gegen Paris St Germain mit 1:0 gewann und ins Londoner Champions-League-Finale einzog, verpasste Bayern München das Weiterkommen bei Real Madrid nur knapp. Nur ein paar Minuten fehlten zum Coup  und der Wiederholung des rein deutschen Finales, doch zwei späte Tore für Real, die ihre 267. remontada (Aufholjagd) in ihrem lauten und gerade modernisierten Fußballtempel feierten.

Es war das erwartete Spiel auf Augenhöhe, allerdings doch mit durchgehenden Vorteilen bei Real, die deutlich mehr Aktivität in Richtung Bayern-Kasten offenbarten als umgekehrt. Doch dieses mal agierte die Münchner Abwehr nahezu fehlerfrei, und was aufs Tor kam, das wurde zur Beute des famosen Manuel Neuer, von dem noch die Rede sein soll …

In der 2. Halbzeit erhöhten die Madrilenen den Druck, doch zwei fabulöse Neuer-Paraden, verhinderten die Führung. Die Münchner verlegten sich aufs Konter, und einer von ihnen führte zum Erfolg. Harry Kane schlug einen Toni-Kroos-Gedächtnis-Pass über 40 Meter direkt in den Lauf von Anthony Davies. Der. Kanadier, früh für Serge Gnabry ins Spiel gekommen, nahm Fahrt auf, wackelte den deutschen Nationalverteidiger Toni Rüidger aus und bezwang Sergej Lunin mit einem satten Schuss.

Doch Real Madrid ist in Dutzenden Schlachten Rückschläge gewohnt. Doch nachdem der vermeintlich schnelle Ausgleich wegen eines klaren Foulspiels an Kimmich zurückgenommen wurde, schienen die Felle davonzuschwimmen. Denn wer sollte denn Manuel Neuer bezwingen? Die Antwort folgte in der 89. Minute: praktisch er selbst: Nachdem er völlig unnötig mit einem weiten Abwurf nur einen Real-Spieler fand, kam Reals Vini jr zum Schuss. Völlig harmlos aus weiter Entfernung, doch Neuer schätzte den Ball falsch ein, dieser sprang von seiner Brust vor die Füße des schnell reagierenden Joselu, der keine Mühe mehr hatte. Das grausame Torwart-Los, es hatte wieder zugeschlagen. Die grandiose Leistung war kaum mehr etwas wert. Ich mag ja Neuer nicht besonders, das Hofieren zu ihm geht mir seit Langem auf die Nerven, insgesamt finde ich, dass er dietolle Klasse von einst schon länger nicht mehr hat. Aber jetzt spielte er seine beste Partie seit Jahren und dann dieser lächerliche Fauxpas, der ihm in dieser Form bei 10 000 Bällen nicht wieder widerfahren wird. Ein kleiner Maulwurfshügel sei Schuld gewesen, analysierte er mit einem Anflug von Galgenhumor. Tja: Seine Monsterleistung geriet ins Hintertreffen. Schnell kamen (nicht nur) bei mir Erinnerungen an Oliver Kahn bei der WM 2002 hoch. Allein dem damaligen Nationaltorwart war es zu verdanken, dass eine äußerst limitiete deutsche Mannschaft ins WM-Finale einzog. Dort zeigte sie die beste Turnierleistung, bis ein ähnlich läppischer Kahn-Abpraller die brasilianische Führung ermöglichte. Die alte Fußball-Weisheit hat immer noch Gültigkeit: Ein Stürmer kann Chance um Chance jämmerlich verhühnern, wenn er zum Siegtor angeschossen wird, ist er der Held, ein Torwart kann Wunderdinge zaubern, macht er einen entscheidenden Fehler, ist er der Depp. Man schaue sich die Notengebung der Zeitungen an, egal ob Boulevard oder Fachblatt.

Bernabeu explodierte, und in diesem Tohuwabohu setzte Joselu noch den zweiten Streich und verwertete eine scharfe Hereingabe von Rüdiger. Ausgerechnet Joselu, der bei Real begann, dann eine jahrelange Odyssee bei verschiedenen europäischen Clubs (u. a. Hoffenheim, Bremen, Frankfurt) unternahm, ehe er dieses Jahr zu Real zurückkehrte, aber auch nur, weil zuvor Harry Kane nicht nach Madrid, sondern nach München wechselte.

Die Entscheidung? Mochte man glauben, weil Bayern-trainer Thomas Tuchel alle Offensiv-Kräfte (Kane, Sané, Musiala) entkräftet und angeschlagen vom Feld nehmen musste (so seine Version. Doch dann die Szene, die jetzt schon allen Stoff zur Legendenbildung innehat. Ein weiter Schlag der Münchner, Mazraoui gewinnt ein Kopfball-Duell, der Ball gelangt über Umwege zu Eric Dier, der den Ball per Direktschuss ins Tor beförderte. Soweit klingt das schon ganz gut. Der große Haken war nur, dass der Schiedsrichter-Assistent Mazraoui im Abseits sah, seine Fahne hob und Schiri  Szyman Marciniak aus Polen die Szene hörbar lange vor dem Dier-Schuss abpfiff. Vorschnell, wie sich herausstellte, denn zumindest die ersten Fernsehbilder legten eher den Schuss nahe, dass Mazraoui nicht im abseits stand. Und gerade in solch knappen Situationen ist es strikte Anweisung ans Schiedsrichter-Gespann, die Szene erst mal weiter laufenzulassen, um gegebenenfalls die Fernsehbilder per Videoreview zu konsultieren. Dieses war jetzt eben nicht mehr möglich, weil mit dem Schiri-Pfiff das Spiel formell unterbrochen war.

Die Bayern tobten und toben wahrscheinlich immer noch. Michael Ballack am DAZN-Mikrofon überschlug sich förmlich vor Empörung über diesen unmöglichen Fehler. Es war fast lustig zu sehen, wie er sich mehr und mehr in Rage redete, die Sätze lkaum mehr zusammenbekam und mehr und mehr auch ins Sächsische verfiel. Der Chemnitzer dachte mit Grausen an ein Champions-League-Spiel 2009  mit Chelsea, als der Schiri im Rückspiel gegen den FC Barcelona einfach trotz mehrerer reichlich eindeutiger Szenen schlichtweg keinen Elfer geben wollte.

https://www.kicker.de/oevreboes-skandalspiel_ballacks-boesen-sprint-uebersah-er-auch-717684/artikel

Die Spieler tobten (nicht ganz so schlimm) Max Eberl, gerade gut zwei Monate als Sportvorstand verstieg sich gar in die Behauptung, alle hätten das deutsche Finale dringend gewünscht, nur die Polnischen (sid!) Schiedsrichter nicht. und die „Bild“ verstieg sich gar zum „schlimmsten Torraub“ seit Wembley 66, gnädig ein paar ähnliche Fälle (Lampard 2010 gegen Neuer) ignorierend.

Ich kann den Ärger sehr gut verstehen, aber:

  1. Wie gesagt: Die Szene war abgepfiffen, und einige Real-Spieler nicht mehr bei der Sache. Vor allem ihr Torwart Lunin ließ den Ball von Dier teilnahmslos relativ nah an sich vorbei ins Tor rollen, der weder besonders fest noch platziert geschossen war. Nach Lage der Dinge hätten vollkonzentrierte Madrilenen und insbesondere Lunin den Treffer mit Leichtigkeit verhindert.
  2. Und sogar wenn dieses Tor gefallen wäre. Wenn wir schon im Spekulatius sind, dann bitte auch über die dann erforderliche Verlängerung, lange 30 Minuten gegen völlig erschöpfte Münchner, die von der Bank nichts mehr hätten nachlegen können. Klar, den Neuer hätte real erst mal bezwingen müssen

Die Münchner täten also sehr gut daran, sich jetzt allein auf diese Szene zu kaprizieren. Natürlich war das Verhalten vom Schiri (auf Eberls Herumreiten aufs „Polnische“ möchte ich lieber nicht eingehen) ein furchtbarer Fehler,  zumal er bei Joselus zweitem Tor bei einer ähnlich knappen Abseitsfrage nicht abpfiff, so dass eine Kontrolle möglich war. Aber insgesamt waren die Münchner den Madrilenen doch ziemlich unterlegen, und da gilt es jetzt, den Hebel anzusetzen.

Und Tuchel muss sich bei allem Lob über die Taktik gegen Real schon fragen lassen, warum all seine Offensiv-Kräfte aus dem letzten Loch pfiffen. Klar, Veletzungen bei Sané und Musiala, aber musste ein Harry Kane in letztlich belanglosen Bundesliga-Spielen wirklich praktisch immer von der ersten bis zur letzten Minute spielen?

Die Analyse wird folgen, die der eigenen Fehler auch (nicht der von Neuer, der wird nie mehr passieren). Jetzt muss aber schleunigst ein neuer Trainer gefunden werden, denn erst danach erscheint mir die Verpflichtung neuer Spieler sinnvoll mal abgesehen davon, dass diese schon gerne wüssten, unter wem sie trainieren und spielen müssen und welche Idee des Fußballs der Coach hat. Spannende Zeiten, versprechen große Unterhaltung (für die unbeteiligten Betrachter zumindest). Und Borussia Dortmund hat die zweifelhafte Ehre, Real am Samstag in 3 Wochen herauszufordern in Wembley.