Viertelfinale, Tag 1

Spanien und Frankreich im Halbfinale, Deutschland raus mit Applaus und Portugal raus, ohne dass diese (eigentlich) so offensivstarke Mannschaft in zwei K.o.-Spielen und 240 Minuten auch nur ein Tor zustande gebracht häte.

Spanien – Deutschland 2:1 n. V.

Ich fange gleich mit der Frage aller Fragen an: Warum zur Hölle hat Schiedsrichter Mr. Taylor nicht auf Elfmeter entschieden, als in der 106. Minute Jamal Musiala mit einem Schuss aufs Spanien-Tor den abgespreizten Arm von Marc Cucurella traf. War das nicht ein klarer Strafstoß, nach dem Irrsinn, den wir alles gesehen haben? Gerade die Deutschen waren irritiert, hatten sie nicht im Achtelfinale einen Elfer in einer viel irrwirzigeren Situation erhalten?.
Dazu mächte ich ein paar Gedanken anmerken. Ich gehe davon aus, dass Taylor nach besten Wissen und Gewissen entschieden hat und nicht dem Wahnsinn verfallen ist. Er hatte beste Sicht auf das Geschehen. Er signalisierte, dass er das Handspiel erkannt hat, und gleichzeitig verneinte er die Absicht des Spaniers fürs Handspiel. Das muss man einfach mal so stehenlassen, aber es bleiben Ungereimtheiten.

Frage 1: Aber ist nicht die abgespreizte Hand ein klares Indiz für Absicht? Nach einer Lesart ist das so, aber Cucurella hat tatsächlich versucht, seinen Arm wegzubringen, der Arm war ja auch völlig ohne Anspannung. Das spricht gegen die Absicht.
Frage 2: Aber den anderen Arm hat er doch angelegt bekommen? Ja, aber der schwang mit der Bewegung, seinen „Hand“-Arm musste er entgegenstemmen, das geht nicht so schnell. Und wir reden von einem scharfen Schuss aus kurzer Entfernung, der ihn traf, also sehr wenig aktiver Reaktionszeit.
Frage 3: Aber die anderen Elfmeter, die bei der EURO gegeben wurden? Im Jurastudium, long, long ago, war einer der ersten Sätze, der mir im Verfassungsrecht eingebläut wurde: keine Gleichheit im Unrecht. Auf die EM übertragen. Es gelten die zuvor ausgemachten Regeln und Auslegungen vor der EM, und nur, weil in den Partien zuvor Unsinn gepfiffen wurde, darf ich nicht aus Gleichheitsgründen denselben Unsinn pfeifen. Deswegen ist auch die sogenannte Konzessionsentscheidung unrecht, auch wenn sie gerecht sein mag.
Frage 4: Aber warum keine VAR-Überprüfung? Der VAR wurde eingeführt, um Situationen zu überprüfen, die der Schiri auf dem Feld entweder nicht gesehen haben oder zweitens eine grobe Fehlentscheiung darstellen. Gesehen hat Mr. Taylor alles, und beim Handspiel besteht ein großes Ermessen beim SR (das kann und muss man vielleicht sogar bedauern). Wenn man so will, haben Taylor und sein SR-Team den VAR perfekt angewendet. Und auch hier gilt: Nur weil das andere Schiris oft anders handhaben, ist das nicht plötzlich richtig. Und genau diesen Punkt verstehen viele nicht. Wie etwa Johannes Kerner, der nicht begreifen konnte, dass eine Situation die eine ODER andere Entscheidung hergibt. Das hat ja auch der Schiri-Experte Patrick Ittrich so erklärt, der zum Schluss kam, dass das Prozedere in Ordnung ging, also vor allem auch der Verzicht auf den VAR, er selbst aber eher Handelfmeter gegeben hätte.
Frage 5: Und wie hätte ich selbst entschieden: Ich neige schwer dazu, dass ich den Elfmeter gegeben hätte, weil eben diese Auslegung in derlei Situationen zurzeit der common sense ist.. Auf der anderen Seite finde ich es gut, wenn in solchen Situationen in Zukunft nicht auf Elfmeter entschieden werden würde. Wobei es zurzeit auch völlig egal ist, ob der Schuss, dem die Hand entgegensteht, in Richtung Tor oder in Richtung obere Tribünen gegangen wäre. In der Hinsicht weinte Julian Nagelsmann auch böse Krokodilstränen, als er sinngemäß  sagte, bei einem Tribünenschuss wolle er gar keinen Elfer haben. Aber genau einen solchen Elfer bekam das deutsche Team im Achtelfinale gegen Dänemark, und Nagelsmann entzog sich jeglicher Diskussion, als er nonchalant auf die Regeln hinwies, nach denen der Strafstoß doch vollkommen berechtigt gewesen sei und er nichts daran auszusetzen habe. Gewinnmitnahme at its worst.
Conclusio: Die richtige Entscheidungsfindung, aber wohl mit der falschen Entscheidung. In Mathe gibt es dafür eine 3.

Die Elfmeter-Entscheidung überstrahlte natürlich das ganze Spiel, das ja schon zum epischen Klassiker hochstilisiert wird. Dabei war die erste Halbzeit ziemlich fürchterlich, man lese einen objektiven Live-Ticker nach. Die Deutschen versuchten mit großer Härte, den Spaniern den Schneid abzukaufen. Gerade Toni Kroos, der nach zwei ziemlich brutalen Fouls gegen Pedri jeweils die Gelbe Karte hätte sehen müssen. Ein unerträglicher Bonus des Starspielers. Der gefoulte Pedri musste nach acht Minuten angeschlagen das Feld verlassen, und dass der für ihn eingewechselte Dani Olmo letzlich zum Matchwinner wurde, ist ein Kapitel für sich.
In der 2. Halbzeit erzielte eben Olmo das 1:0 per Flachschuss, den ein Manuel Neuer in seinen besten Tagen ziemlich sicher gehalten hätte, weil dieser weder wirklich gut platziert nochbesonders scharf war. Aber das sehe ich vielleicht überkritisch. Den Deutschen und auch Nagelsmann muss ich konzedieren, dass sie sich mit allem gegen die Niederlage und das Aus stemmten, und allein diese Tatsache ist gar nicht hoch genug zu loben, weil ich derlei Widerstand in den vergangenen Jahren bei erschütternden Turnieren  nicht erlebt habe. Die Spanier ihrerseits zogen sich unverständlich weit zurück und wollten nur noch das 1:0 über die Zeit retten, doch Florian Wirtz nach außergewöhnlicher Kopfballablage von Joshua Kimmich besorgte noch den Ausgleich.
In der Verlängerung scheuten beide Teams das letzte Risiko, viele Spieler waren auch mit ihren Kräften am Ende. Und dann eben das Aus, das der Ex-Dortmunder Merino nach Maßflanke von Olmo mit einem großartigen Kopfball herbeiführte. Was das deutsche Publikum nach einer kurzen Schockstarre nicht abhielt, ihre Mannschaft mit Riesenapplaus und Sprechchören feiernd zu verabschieden. Die Zeiten, in denen das Nationalteam und Fans arg fremdelten, scheinen tatsächlich vorbei.

Mann des Tages
Dani Olmo: 1 Tor selbst erzielt, 1 Vorlage und auch sonst mit seiner Ballfertigkeit ein steter Gefahrenherd. Aber insgesamt haben die schon einen Haufen von Ausnahmekönnern, die Spanier.

Stark trotz der Niederlage
Anthony Rüdiger: 119 Minuten bärenstark, im Zweikampf eine Bank, obwohl er früh Gelb sah und er wusste, in einem möglichen Halbfinale gesperrt zu sein. Bügelte zahlreiche heikle Situationen aus. Und dann die Flanke des Verderbens, als er Merino aus den Augen verlor und nur noch entsetzt zuschauen konnte, als dieser so gekonnt einnetzte.

Und sonst?
Das Spiel wurde ja im Vorfeld teilweise auf das Duell der Supertalente hier (Yamal, Williams) und dort (Musiala, Wirtz) reduziert. Alle 4 hatten auch sehr starke Szenen, aber wirklich prägend waren andere, gerade bei Espana. Aber das war schon mehr als eine Talentprobe des Quartetts, von dem wir noch sehr viel Gutes sehen werden.

Analyse des Siegers
Noch mal davongekommen, das ist auch der Tenor in Kommentaren. Erstmals ein Sieg gegen einen EURO-Gastgeber, was es nicht alles gibt. Sie haben bis Dienstag Zeit, sich zu erholen, müssen aber auf die gesperrten Carvajal, Morata und LeNormand verzichten. Gegen Frankreich braucnen sie mehr Mut, um deren Bollwerk zu knacken.

Und die Verlierer?
Verlassen das Turniere erhobenen Hauptes. Eine ehrenvolle Niederlage gegen den Top-Favoriten des Turniers bis dato auch in Top-Formnoch dazu begünstigt durch eine Schiedsrichter-Entscheidung, das ist weitaus mehr, als ich im November nach den beiden verheerenden Niederlagen gegen die Türkei und in Österreich erwarten durfte. Jetzt sind die Aussichten blendend. Mit Musiala und Wirtz hat das Teams zwei Ausnahmekönner in der Offensive, die viel gelernt haben dürften. Allerdings: Toni Kroos wird nicht mehr dabei sein, wahrscheinlich auch nicht Kapitän Ilkay Gündogan, Thomas Müller und Manuel Neuer. Aber zur WM 2026 in Amerika sind es noch zwei Jahre, da hat Nagelsmann viel Zeit, seinen Weg weiterzugehen und vielleicht sogar noch konsequenter als bisher. Und der Coach hat auch das Glück, dass seine fragwürdigen Entscheidungen bezüglich der Anfangself (Can für Andrich, SDané für Wirtz) kaum ein thema mehr waren.

Frankreich – Portugal 5:3 n. E.

Tja, was soll ich sagen? Es war ein durchaus ansehnliches Spiel, das allerdings bei der Riesenklasse beider Offensivreihe noch viel besser und aufregender hätte sein müssen. Aber Safety First, das war vor allem bei den Franzosen die Devise. Selbst bei Kontermöglichkeiten blieben immer genug Leute hinten, um nicht in einen Gegenkonter zu laufen. Und auch die Portugiesen scheuten das letzte Risiko, die Offensivstärke blitzte höchstens auf.
Und dann halt noch das leidige Thema Cristiano Ronaldo: Nachdem der Vorgänger-Trainer Fernando Santos es bei der WM 2022 es gewagt hatte, seinen Superstar auch mal auf die Bank zu setzen, vollführte jetzt Roberto Martinez die Rolle rückwärts: Ronaldo spielt immer, lautete dessen Devise ungeachtet der Schar brillanter Offensivkräfte, die er dafür auf der Bank schmoren ließ. Aber Ronaldo ist halt nicht mehr in Topform, das war in jeder Situation zu sehen. Zweikampfschwach, lauffaul, und schwache Abschlüsse. Und dennoch hat er nicht eine Minute gefehlt – trotz zweier kräftezehrenden Verlängerungen und nicht einmal in dem für Portugal bedeutungslosen Spiel gegen Georgien. Es bleibt festzuhalten: Kein Tor in 5 Spielen, allerdings auch zwei sicher verwandelte Versuche im Elfmeterschießen gegen Slowenien und Frankreich. Dennoch: Ronaldo hat den richtigen Zeitpunkt des Absprungs verpasst

Mann des Spiels
Jules Kounde: Der beste Verteidiger des Turniers. Im Zweikampf nicht zu bezwingen, tolle Technik toller Spielaufbau. Und er ist erst 25 Jahre altAnalyse des Siegers
5 Spiele mit den Ergebnissen: 1:0, 0:0, 1:1, 1:0, 0:0: Die drei erzielten Treffer resultierten aus zwei Eigentoren (bei den beiden 1:0 und einem Elfer von Kylan Mbappé.

Stark trotz der Niederlage
Nuno Mendez: Was für ein Pensum Hinten stark, vorne brandgefährlich. Und nicht zuletzt, ein ganz sicher verwandelter Versuch im Elferschießen. Den hätte ich gerne noch länger im Tunrier gesehen.

Und sonst?
Portugals Torwart Diogo Costa war noch im Achtelfinale der gefeierte Held, als er alle drei Versuche der Slowenen im Elferschießen abwehrte. Diesmal hatte er bei 5 Schüssen keinerlei Abwehr-Chance, zu gut waren diese auch geschossen. Acuh wenn man die Nervensanspannung nicht wirklich trainieren kann, die richtige Schusstechnik umso mehr. Man muss es nur tun.. Wobei der einzige Fehlschüütze Joao Felix (der unglückliche Felix) schlicht Pec mit seinem Pfostenschuss hatte.

Analyse des Siegers
Trainer Didier Deschamps setzt auf die Defensive, der Erfolg gibt ihm recht, egal wie unansehnlich das Gekicke ist. Die Abwehr scheint in der Tat unüberwindlich, auch weil mit Mike Maignan ein Klassemann zwischen den Pfosten steht, der dann das wenige souverän klärt, was doch durch die Abwehr kommt. So gewinnt man Turniere, so sehr das der objektive Fußball-Fan bedauern mag, sofern er nicht an einer Magisterarbeit über maximale defensive Effektivität brütet und Anschauungsmaterial braucht.

Und die Verlierer?
Portugal war mein „kicktipp“-Europameister – daraus wird nichts. Vertane Gelegenheit, aber auch mit Gründen. Siehe Ronaldo. Der tritt jetzt hoffentlich von der internationalen Bühne freiwillig ab – am besten sofort. Er wird natürlich mit seiner Klasse und auch Ausstrahlung nie zu ersetzen sein, aber es gibt genug Talente, die den Ver,lust  auf andere Art und Weise kompensieren.