Jannik Sinner gedopt, aber nicht gesperrt und kaum bestraft. Dieser Fall schreckt den Tenniszirkus seit ein paar Tagen auf.

Anmerkung: Jannik Sinner ist derzeit mein Lieblingsspieler auf der Profi-Tour. Umso schwerer fallen mir die folgenden Zeilen, vor allem meine Bewertung.

Was ist passiert?

Die International Tennis Integrity Agendy gab am Dienstag bekannt, dass der Weltranglistenerste Jannik Sinner im März zweimal positiv auf das verbotene Mittel Costebol getestet wurde. Ein unabhängiges Gericht habe ihn jetzt freigesprochen, da kein Vorsatz und nicht einmal Fahrlässigkeit vorliege. Folkgende Begründung hat der Italiener vorgebracht, die letztlich als glaubwürdig eingestuft wurde. Sein Masseur habe ihn mit dem verbotenem Mittel kontaminiert. Der Masseur habe in Italien frei erhältliche Spray verwendet, um eine eigene Wunde, zu behandeln, die er sich zugezogen hat. Über dessen Hände sei das Mittel in Sinners Körper gelangt. Deshalb entsprach die ITIA den Einsprüchen von Sinner gegen eine vorläufige Sperre.
Der erste positive Befund stammt vom 10. März während des Turniers von Indian Wells, die zweite bei einer Trainingskontrolle 8 Tage später, ebenfalls noch in den USA, da das Turnier in Miami bevorstand. Während dieser Zeit habe besagter Masseur Sinner täglich behandelt. Jetzt habe eine unabhängige Schiedsstelle nach Anhörung de Beteiligten entschieden, dass kein Veschulden vorliegt. Dennoch werden Sinner den Statuten gemäß das Indian-Wells-Preisgeld (300.000 Dollar)  und die ATP-Punkte (400) aberkannt.

Ein paar Gedanken dazu

Ja, das kann so gewesen sein. Ist zwar sehr, sehr unwahrscheinlich, aber spätestens seit Douglas Adams‘ Reise durch die Galaxis wissen wir, dass auch extrem Unwahrscheinliches passieren kann. Wie auch die Ausrede des überführten Sprinters  Dennis Mitchell (zu viel Sex), de chinesischen SchwimmerInnen (kontaminierte Küche) oder die berühmteste Zahnpasta der Welt (Dieter Baumann). Aber selbst wenn sich alles so zugetragen haben sollte, bleiben ein übler Nachgeschmack und einige offene Fragen. Und ein paar böse Gedanken habe ich leider auch

1. Warum erfährt die Öffentlichkeit jetzt erst von diesem Fall? Und nicht, wie sonst bei Dopingfällen mittlerweile üblich, sofort nach Bekanntwerden, also im März. Der Tennisveband selbst hatte sicher kein Interesse, dass der damals absolut heißeste Spieler der Tour in schlechtes Licht gerückt worden wäre. Außerdem gilt natürlich auch im Fall Sinner die Unschuldsvermutung.

2. Aus dem, was  zumindest ich gelesen habe, wird nicht klar, wann man Sinner über die positiven Tests informiert hat. Besser gefragt: Wusste der Südtiroler zum Zeitpunkt der zweiten Probe von der positiven ersten Probe oder zumindest von einem Verdacht? Normalerweise brauchen die Tests nicht so lange.

3. Nehmen wir zu Sinners Gunsten an, er und sein Umfeld haben nichts gewusst. Wie lange hält sich das Mittel im Körper? Und können Hände so lange kontaminiert sein, obwohl gerade ein Masseur sie regelmäßig desinfiziert. Oder hat der  seine Salbe wieder und wieder aufgetragen und das, obwohl zumindest er auf jeden Fall wissen musste, was für ein Zeug er da zu sich nimmt? Da passt meiner Meinung nach einiges überhaupt nicht zusammen.
Update: Sinner erfuhr am 10. April, also erst nach der 2. Probe, von der positiven ersten Probe. Und sein Masseur hat die Salbe seinen Darstellungen nach wiederholt auf seine verletzte Hand aufgetragen. Allerdings ist auf dieser ein Warnhinweis, dass es für Leistungssportler verbotene Substanzen erhält.

4. Und damit zu meinen sehr unschönen Gedanken: Sinner war ein Riesentalent und vieles mehr. Aber seit Herbst 2023 hat er einen unglaublichen Leistungssprung gemacht. Turniersieg in Wien, Triumph bei ATP-Final im November. Im Januar Sieg bei den Australian Open und weitere Turnier-Erfolge. Bis Indian Wells war er im Jahr 2024 unbesiegt. Vor allem sein Aufschlag hat sich klar vebessert, ist schneller geworden.
Der Tennissport ist anders als mittlerweile der Radsport für seine Intransparenz bekannt. Ob und in welchem  unangekündigte Kontrollen wirklich stattfinden, wissen wir nicht. Die Profis selbst sind bei diesem Thema extrem schmallippig. Und dass beim Tennis Doping hilft, ist hoffentlich unstrittig. Ein Ballgenie wird man dadurch nicht plötzlich. Aber auf Kraft kommt es an und vor allem auf totale Fitness und dabei gerade gute Regeneration. Und genau dafür reichen offenbar auch geringe Mengen von Colestol, die auf die Haut aufgetragen werden.
Andere Verdachtsfälle im Tennis gibt es genug. Ich denke etwa an gerade Thomas Muster 1995 beim Turnier in Monte Carlo. Mit Hängen und Würgen gewann er damals ein Halbfinale gegen Andrea Gaudenzi und sah dabei am Ende wie ein wandelnder Leichnam aus. Nicht mal 24 Stunden rannte er Muster-typisch quickebendig über den Platz und siegte gegen Boris Becker. Dessen Umfeld sprach unverhohlen von Doping, dem wurde nicht nachgegangen. Unvergessen auch der Spruch  der Williams-Schwestern, sie dächten nicht daran, morgens bei unangekündigten Kontrollen in einen Becher zu pinkeln.
Oder denken wir aktuell an Novak Djokovic. In Paris sagt er sein Viertelfinale ab, lässt sich am Knie operieren, und nur gut drei Wochen später spielt er in Wimbledon, erreicht das Finale und ist danach bei Olympia so gut wie lange nicht mehr. Überschwänglich dankte er seinen Ärzten. Wirklich nur deren legale Kunst? Und über Rafael Nadal und seine Fitspritzerei mit schwersten Schmerzmitteln will ich erst gar nicht anfangen.
Gerade die besten Tennisspieler können sich die besten und teuersten Ärzte leisten, sie beschäftigen einen ganzen Stab der besten Spezialisten. Die loten im Zweifel die Grenzen legaler/illegaler Behandlung akribisch – und gerade das macht mich im Fall Sinner so stutzig.
5. Letztlich noch die Strafzumessung: Die ist ein Witz. Wenn das nächste Umfeld mindestens grob fahrlässig  against the rules handelt, muss sich das der Sportler zurechnen lassen. In genug Fällen wurde auch so entschieden. Glashaus Tennis: Bisher haben nur 2 Profis, Nick Kyrgios und Denis Shapovalov Kritik geäußert.
6. Noch ein letztes, das mich stört: Wo ist der öffentliche Aufschrei der sogenannten Doping-Verfolger. Wo meckert also ARD-Mann Hajo Seppelt. Auch in der von mir so geschätzten Süddeutschen ist bisher nur eine Agenturmeldung zum Vorfall zu entdecken. Keine eigene Recherche der Kistners und Co, keine eigene Einordnung des Geschehens. Das sind aber dieselben, die die Leistungen der Radsportler per se anzweifeln auch ohne positiven Befund. Wofür sie natürlich auch gute Gründe haben.
Update: Jetzt gibt es einen eigenen Bericht der SZ von Tennis-Journalistin Barbara Klimke.
Und Hajo Seppelt hat sich auch geäußert. Braucht halt seine Zeit. https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3Nwb3J0c2NoYXUuZGUvc3BvcnRzY2hhdS1mZm1wZWctdmlkZW8tOGIzZGYxZGItZTgzMC00YjA3LWJhY2MtZGU4ZTgxYmY1YmQz

Conclusio: Der Fall Sinner (Sünder) stinkt zum Himmel. Die Wada will sich das Ganze mal anschauen. Bin echt in der Zwickmühle, ob ich für meinen Lieblingsspieler eine Sperre gutheißen will.