Si tacuisses, Herr Nagelsmann

„Wir haben in Katar gesehen, dass zu viele politische Themen eine Mannschaft schon belasten können. Da sollten wir alle draus lernen. Dass nicht alle Dinge top funktionieren in Saudi-Arabien, glaube ich, liegt auf der Hand. Aber das sind nicht unsere Bewertungsgrundlagen. Wir müssen uns sportlich so präparieren … dass wir ein gutes Turnier spielen.“ (Julian Nagelsmann, deutscher Bundestrainer)

Was für ein Armutszeugnis, was für ein Offenbarungseid eines doch intelligenten Mannes (muss ich dieses Attribut aus meinem Hirn löschen?). Deutlicher könnte einer seine Abgehobenheit nicht zum Ausdruck bringen. Da ist ein Mann, der in Deutschland als Bundestrainer durchaus ein Standing hat, dessen Worte Gewicht haben, der mit diesen eine Gesellschaft aufrütteln könnte. Dieser Mann hat sogar erkannt, dass die Menschenrechte und vieles andere mehr in Saudi-Arabien mit Füßen getreten werden. Nicht einmal diesen Umstand will er klar benennen, sondern euphemisiert („nicht alle Dinge top funktionieren“). Und zu was entscheidet er sich? Nichts dazu zu sagen und eben noch schlimmer: Auch noch zu sagen, dass er nichts sagt. Wie schrieb schon Erich Kästner sinngemäß?: „An allem Unrecht sind nicht nur die Schuld, die es begehen, sondern auch diejenigen, die es nicht verhindern.“

Dabei wäre genau jetzt der Zeitpunkt des Fußballs und seinen seinen Funktionären, den Sportdirektoren, den Trainern, dass sie dem vom geldgeilen FIFA-Chef Gianni Infantino ausbaldowerten WM-Teilnehmer 2034 (!) Saudi-Arabien den Stinkefinger zeigen. Denn höchstwahrscheinlich am 11. Dezember wird das Land offiziell gewählt, da es keinen Gegenkandidaten gibt (unter anderem aufgrund der irrsinnigen 3-Kontinente-WM 2030  – ein Trauerspiel für sich -, die am selben Tag kurz zuvor durchgewinkt werden wird. Und das, obwohl in Saudi-Arabien Bauarbeiter für Großprojekte laut Amnesty International noch furchtbarer behandelt werden als in Katar anlässlich zur WM 2022, ich kann es mir kaum vorstellen. Was wäre das für ein Zeichen, wenn der DFB mit seiner sportlichen Führung klar benennen würden, was für eine erbärmliche, indiskutable, menschenverachtende Entscheidung es ist, dieses zutiefst frauenfeindliche Land, das Morde im Ausland an kritischen Menschen beauftragt  (Kashoggi), zum WM-Gastgeber zu küren. Warum schaffen es die großen europäischen Verbände nicht, sich gemeinsam gegen den FIFA-Diktator Gianni Infantino zu stellen. Aber nein: Alle kuschen, freuen sich auf die blutgetränkten Milliarden-Einnahmen. Scheiß da doch auf die Menschenrechte, scheiß auch auf die erbärmliche Behandlung der Bauarbeiter, die die Stadien unter unwürdigsten Bedingungen hochziehen müssen, die wie Sklaven behandelt werden.

Natürlich wird ein einzelner Bundestrainer die Entscheidung nicht verhindern können. Aber was wäre das für ein Zeichen: Julian Nagelsmann und der Prädident des größten nationalen Fußball-Verbandes der (okay, bei diesem trostlosen, dafür von der FIFA-Mafia bestens dotierten DFB-Chef Bernd Neuendorff wäre das in etwa so wahrscheinlich, wie wenn die Hölle zufriert) geißeln die Entscheidung, geißeln Saudi-Arabien, geißeln Infantino und all seine geldgierigen Vasallen. Und suchen dafür wichtige Mitstreiter in Europa, in Südamerika, die noch einen Hauch Anstand in ihren Funktionärsseelen haben. Die muss es doch geben!, hoffe ich  – noch nicht völlig desillusioniert. Aber nein, hübsch diplomatisch bleiben, kuschen, vielleicht darf Deutschland ja bald wieder Gastgeber eines großen Turniers sein. Final Four der Nations League 2025 etwa. Neues Geld auch für die eigene Funktionärskasse, und die Geltungssucht kann erneut befriedigt werden.

Und ein heutiger Aufruhr würde wohl kaum das sportliche Abschneiden von 2034 belasten wie das unselige Binden-Theater 2022. Zumal es höchst unwahrscheinlich ist, das Julian Nagelmann bis dahin noch Bundestrainer ist. Und deswegen könnten mutige Menschen einen Aufstand anzetteln. Schade, dass ein Julian Nagelsmann diesen Mut, der ihm persönlich gar nicht viel abfordern würde, nicht aufbringen will.

Nagelsmann bleibt beim DFB

Nachdem Experten wie Didi Hamann und die Bild sich „ganz sicher“ waren und „viele Anzeichen“ sahen, dass Julian Nagelsmann der neue Trainer beim FC Bayern wird, kam Gott sei Dank jetzt schon die Klarstellung. Nagelsmann bleibt Coach beim DFB, der Vertrag wird bis 2026 verlängert. Soweit kommuniziert ohne Ausstiegsklausel oder ein vorzeitiges Kündigungsrecht des DFB im Falle eines frühen Ausscheidens bei der Heim-EM.

Für mich ist das die einzig logische Entscheidung. Nagelsmann ist ja erst seit September Bundestrainer. Und nach einem nur dreiviertel Jahr freiwillig wieder zu gehen, wäre arg früh. Vor allem, weil die Entwicklung des Teams noch nicht abgeschlossen ist. Vor allem die Jungen Florian Wirtz und Jamal Musiala kommen erst noch ins beste Fußballer-Alter, können ihre ohnehin schon fast einzigartige Klasse weiter ausbauen. Und auch sonst gibt es gerade Talente zu Hauf gepaart mit einigen Etablierten. Beim DFB kennt er jetzt alle Abläufe, er hat nach dem tollen Spielen in Frankreich und gegen Holland ein großartiges Standing.

Und die Alternative? In Deutschland wäre das wohl nur der FC Bayern gewesen und ganz vielleicht auch Borussia Dortmund. Bleiben wir bei Bayern: Das wäre für beide Seiten ein extremes Wagnis. Zum einen ist es schon mal schiefgelaufen, und auch wenn die damaligen Hauptakteure des Rauswurfs Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic nicht mehr dabei sind: Niemand kann mir erzählen, dass die Granden Hoeneß und Rummenigge nicht ihren Segen zu diesem Schritt gegeben haben.

Viel entscheidender ist jedoch, dass die Bayern laut eigener Aussage einen Umbruch starten wollen, mit offenbar radikalen Änderungen im Kader. Da wäre es schon extrem hilfreich, den künftigen Trainer bei der Kaderplanung mit einzubeziehen. Doch Nagelsmann hat dieser Tage hoffentlich den Kopf voll mit der EM-Vorbereitung, und spätestens nach Saisonschluss gibt es für ihn sowieso kein anderes Thema. Und wie man sich verzetteln kann, wenn zu viele Themen auf einen einprasseln, durften wir ja bei der WM bewundern, wo es so viele Nebenkriegsschauplätze gab, die je nach dem, wen man fragt, mindestens eine Rolle wenn nicht gar der vielleicht entscheidende Grund am Vorrundenaus war, so hehr die Gedanken auch waren.
Es wird ohnehin mehr als genug auf Nagelsmann einprasseln, da kann er Fragen zum neuen Verein absolut nicht brauchen und ergäben nur eine zweite Angriffsfläche. Außerdem endet die EM erst Mitte Juli, also lange nach Beginn der Vorbereitung der Clubs. Und ein normaler Mensch braucht nach dieser enormen vor allem auch psychischen Anspannung mindestens zwei Wochen komülett fußballfreien Urlaub.
Sollte die EM dagegen schieflaufen, käme Nagelsmann schon angezählt zu den Bayern.

Natürlich wäre auch das Verhältnis Nagelsmann/Medien/DFB belastet, wenn es ein frühes EM-Aus gibt und der Fußball nicht den Erwartungen entspricht. Aber dann können sich die Verantwortlichen in Ruhe zusammensetzen und analysieren, was schiefgelaufen ist. Und ich finde es auch komplett richtig, dass es jetzt kein wie auch immer formuliertes WM-Ziel gibt als Voraussetzung für eine Weiterbeschäftigung. Das haben die Handballer ja gerade praktiziert, als sie mit Gislason verlängert haben, diese Verlängerung aber hinfällig gewesen wäre, wenn die Olympia-Qualifikation nicht geschafft worden wäre. Das hat allen Beteiligten nicht gut getan und noch zusätzlichen Druck aufgebaut, der auch spürbar war.

Nagelsmanns jetzige Entscheidung ist auch gut für die Bayern, die Nagelsmann wie Alonso und Rangnick (kleines Fragmichzeichen) als Trainer-Kandidat streichen müssen. Einfach wird die Suche allerdings nicht. Mir würde die Variante Zidane/Ribéry am besten gefallen. Die Sprache sollte nicht das große Problem sein. Die Frage ist natürlich, ob Zizou das überhaupt in Betracht zieht und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Juve ist für ihn natürlich eher der Herzensverein. Ansonsten wünsche ich den Verantwortlichen viel Glück bei der Suche. Wird schwer genug.