Was so auffiel bei der EM

Die Vorrunde ist überstanden. Nach 36 teilweise sehr unterhaltsamen (Österreich – Holland, Italien Kroatien, Georgien – Türkei), aber auch unterirdischen Partien ist es gelungen, auch mittels Rechenschiebers aus 24 Teams 16 Achtelfinalisten zu ermitteln. Ab morgen beginnt also die K.-o.-Runde, die Do-or-die-Spiele. Ob die dann immer zu aufregenden Spielen führen, wage ich zu bezweifeln, zu (zumindest ergebnismäßig) pragmatisch agieren manche Mannschaften. Konkrete Vorschauen auf die K.-o.-Spiel mache ich hier morgen, heute gibt es eine Rückblick, was so aufgefallen ist.

Der pragmatische Ergebnisfußball lebt

Negativ hervorzuheben sind hier besonders die Engländer. Angesichts der klangvollen Namen wie Phil Foden, (Spieler des Jahres in England),Jude Bellingham (Spieler des jahres in Spanien), aber auch Harry Kane (Europas Torschützenkönig der Saison) und Declan Rice (Tuchels Super Holding Six) ist das schon mehr als dürftig, was die Three Lions bisher abgeliefert haben. Zwei mickrige Tore gelangen, der Unterhaltungswert der Spiele tendiert gegen Null. Das ficht Trainer Gareth Southgate nicht an, verweist auf den (letztlich ungefährdeten ( Gruppensieg) und das gerade defensiv vieles zu stimmen scheint. Ohne meiner morgigen Vorschau zuviel vorwegzunehmen: Die Launen des Turnierbaumes haben den Engländern einen durchaus gangbaren Weg bis in ein mögliches  Finale beschert, was auf der Insel dementsprechend gefeiert wird. Wenn das gerade deutsche Fußball-Fans ärgert, denen sei ein Blick auf die Finalteilnahmen und den Weg 1982, 1986 und 2002 empfohlen.
Fast genauso enttäuschend waren bisher die Belgier; der ewige Geheimfavorit hat sich nachhaltig von dieser Rolle verabschiedet. Für sie könnte gegen Frankreich im Achtelfinale Schluss sein. Auch Les Bleus und Trainer Didier Deschamps setzen auf eine sichere Verteidigung (die tatsächlich auch sicher steht, wenn da nicht Upamecano für manchen Bock gut wäre). Und vorne hilft der liebe Gott oder Maskenmann Kylian Mbappé
Der Modus half dem Pragmatismus, weil auch 4 der 6 Gruppendritten das Achtelfinale erreicht haben.

Die wunderbaren Georgier

Ich muss gestehen: Wirklich ein Begriff vom Team war mir vor Turnier-Beginn nur der brillante Torwart Mamardaschwili und Kwarazchelia von der SSC Napoli, einer der prägenden Spieler des Meisterteams 2023. Die beiden sind tatsächlich die Auffälligsten. Mamardaschwili ist mit Abstand der beste Torwart des Turniers, „Kwaradona“ spielt den Gegnern Knoten in die Beine. Doch Akteure wie Korataschwili und Mikautadse haben sich in den Vordergrund gespielt. Die unfassbare Begeisterung und Spielfreude ist anstecken,d Trainer und Ex-Bayern-Profi Willy Sagnol ist offenbar genau der richtigen Mann am richtigen Ort. Wahrscheinlich geht das Märchen jetzt gegen Spanien zu Ende.
Dazu auch eine statistische Anmerkung: Der Außenseiterstatus der Georgier wird ja gerne mit der Weltrangliste und Platz 75 belegt. Die ist allerdings derart undurchaschaubar, das sie als ernstzunehmendes Kriterium über Stärke/Schwäche eines Teams praktisch gar nichts aussagt. Das ist ähnlicher Quatsch wie das dauernde Heranziehen des 1,5-Milliarde-Euro schweren Kaders der Engländer, weil auf der Insel Fantasiesummen gezahlt werden, die mit der Wirklichkeit und dem eigentlichen Wert der Spieler nichts zu tun haben.

Tu felix Austria

Die Österreicher gingen ja mit viel Rückenwind ins Turnier. Verhalten war man allerdings dennoch angesichts der sogenannten Todesgruppe mit Frankreich, Holland und Polen. Mit dem Gruppensieg hätte wohl niemand gerechnet. Und der wurde eben nicht ermauert, sondern das Team von Ralf Rangnick spielte mit den attraktivsten Fußball der Vorrunde. Bei Rot-Weiß-Rot sehe ich eine klare Spielidee, nämlich die unerbittliche Balljagd des gesamten Teams bis tief in die gegnerische Hälfte. Hier ist im besten Sinne des Wortes ein Kollektiv zu sehen, greift im Idealfall ein Rädchen ins andere. Und bei allem Respekt vor Arnautovic, Sabitzer und den anderen: Es fehlt der alles überragende Einzelkönner, zumal mit David Alaba der beste Spieler des Landes nicht aktiv dabei ist, sondern nur als Non-playing-Captain. Wie weit der Weg führt, muss man sehen, aber beim Sieg gegen Polen hat die Truppe gezeigt, dass sie auch unter größtem Druck die Leistung abrufen kann.

Die indiskutable Gruppe C

Ja, ich bin auch persönlich beleidigt über das wirklich furchtbare Spiel Dänemark gegen Serbien, weil ich dieses live vor Ort in der Münchner Arena ertragen musste. Wers wirklich noch mal nachlesen will: https://blickueberdenteich.de/ein-furchtbares-spiel-und-doch-vergnueglich/

Insgesamt schafften es England, Dänemark, Slowenien und Serbien in 6 Spielen auf satte 7 Tore, und das nicht weil die Abwehrreihen oder gar Torhüter so brillant agiert hätten. Keiner wollte, jeder schaute auf Blitztabellen. Und ein gewisses Maß an offensiver Unfähigkeit kommt dann noch dazu. Das Traurige ist, dass allein die Serben die Koffer packen müssen, der Rest darf weiter dilletitteren.

Der bescheuerte Modus

24 Teams – das ist von vornherein dämlich, weil es eben keine Zweierpotenz (8, 16, 32) ist, die man dann in einer K.-o.-Runde herunterspielen kann. Also musste der Kunstgriff der „besten 4 Dritten“ her, um auf 16 zu kommen – und damit war die Ungerechtigkeit programmiert. Denn die Gruppen spielten ihre jeweils letzten Spieltage nicht alle gleichzeitig (was bei 12 Spielen und nur 10 Stadien schon logistisch unmöglich ist, von der Vermarktung ganz zu schweigen), sondern nach und nach. Die Ungarn waren als Erste dran am Montag und wussten dann bis zum Abpfiff der Gruppe F am Mittwoch nicht, ob sie dabei sind oder nicht, sie waren es am Ende nicht. Die anderen wussten dagegen immer deutlicher Bescheid, was sie an Ergebnissen zum Weiterkommen bräuchten. Exemplarisch etwa die Österreicher. Die wussten vor dem Holland-Spiel, dass sie dieses sogar mit 4 Toren Unterschied verlieren könnten und trotzdem ganz sicher weiterkommen würden. Da kann man es natürlich ganz anders angehen lassen, was Ralf Rangnick hinterher ja auch unumwunden zugab, als er einige Spieler zunächst schonte.
Klar, je mehr Teilnehmer, desto mehr Länder sind involviert, die es normalerweise in ein 16er-Feld nicht schaffen, und die sog. Kleinen waren fürs Turnier sehr gewinnbringend wie Georgien und Albanien. Aber dann kann man gleich auf 32 Teams aufstocken mit acht Gruppen. Würde der Qualität auch nicht über Gebühr schaden, wenn dann die diesmal zuschauenden Schweden (Tradition!), Norweger (Haaland!) und Griechen (Europameister 2004!) auch noch mitgemacht hätten.
Und noch ein Gustostückerl aus der Regelecke: Es kam tatsächlich zu einem Tiebreaker in der (natürlich!) Gruppe C, als die Anzahl der Gelben Karten über die Platzierung und erst so den Deutschen die Dänen als Gegner bescherte. Was so recht niemand auf dem Schirm zu haben schien, den Eindruck vermittelten zumindest die Trainer hernach. So darf sich der Slowene Novakovic, ein Co-Trainer, rühmen, mit seiner Gelben Karte mitentschendend gewesen zu sein, das seinem Team Deutschland als Achtelfinalgegner erspart bleibt und „nur“ Portugal heißt. Blöd natürlich, dass diese Karte im mir vorliegenden Spielberichtsbögen nirgends auftauchte und das Gelb-Zusammenrechnen während der Partie zur Makulatur werden ließ.

Tolle Regel, warum nicht schon vor 50 Jahren?

Vor Beginn des Turniers gab es eine bedeutende Änderung. Nach einem Schiedsrichterpfiff darf nur noch der Kapitän mit dem Schiri diskutieren. Was hatten alle Angst vor einer Kartenflut, angesichts der bisher üblichen, oft endlosen Streitereien um jeden Einwurf. Es passierte: wenig bis nicht. Die Spieler waren sehr diszipliniert, und die (meisten) Schiris legten die Regel auch nicht buchstabengetreu aus, sondern mit Augenmaß. Die traurige Ausnahme war der Ungar Kovac bei der jetzt schon sagenumwobenen Partie Türkei gegen Tschechien, als er insgesamt 21 (!) Gelbe Karten zog – EM-Rekord.

Insgesamt klappte es aber wirklich gut, und die Frage darf (nicht nur) ich schon stellen: Warum nicht viel, viel früher, zumal Sportarten wie Eishockey und Rugby schon ewige Zeiten nach diesem Modus verfahren. Klar, es gab merkwürdige Besonderheiten. So erhielt Italiens Torwart Donnarumma wegen Meckerns Gelb. Der ist zwar Kapitän, aber auch Torhüter. Und damit diese im Fall eines Falles nicht übers ganze Feld laufen müssen, wird ein Feldspieler als Ersatzkapitän benannt, aber eben mit der Folge, dass der echte Kapitän Donnarumma nichts mehr sagen darf.

Zu guter Letzt

  • Die Torschützenliste führt souverän Hans (Jimmy) Eigentor ein, der bereits siebenmal teils auf extrem skurrile Weise (Sami Akaydin https://www.sportschau.de/fussball/uefa-euro-2024/das-eigentor-von-sametakaydin-gegen-portugal,eigentor-tuerkei-100.html erfolgreich war. Romelo Phantomtor netzte auch schon dreimal ein; der bedauernswerte Belgier Romelo Lukaku erzielte drei wunderbare Treffer, die allesamt wegen Abseits (zweimal hauchzart) und angeblichen Handspiels (bestenfalls gestreift) nach Video-Ansicht kassiert wurden
  • Schreckmoment mit glimpflichen Ausgang: Der Ungar Vargas stieß heftigst mit einem Schotten zusammen und blieb bewegungslos liegen, war zeitweise bewusstlos. Man musste das Schlimmste befürchgten. Am nächsten Tag die leichte Entwarnung: zwar böse Brüche im Gesicht, aber offenbar keine bleibenden Schäden. Gute Besserung!

Und jetzt viel Spaß beim Achtelfinale!