Neuers überfälliger Schritt

Jetzt ist es offiziell. Am Mittwoch hat Manuel Neuer bekanntgegeben, dass er nicht mehr für die deutsche Nationalmannschaft spielen wird. Die Reaktionen reichen von „Zeit wird es“ bis „was für ein großartiger, großmütiger Schritt des besten Torwarts aller Zeiten“. Der „Kicker“ tat sich besonders hervor. Die Lobhudelei grenzte an Seligsprechung zu Lebend-Zeiten (geht das überhaupt?), dabei verfasste nicht einmal Bayern-Fanboy Carlo Wild die Zeilen. https://www.kicker.de/neuer-beendet-mit-stil-und-groesse-eine-einmalige-aera-1045795/artikel

Mein Kommentar dazu

Für mich kommt der Schritt keine Sekunde zu früh.Schon die Tatsache, dass ihn Bundestrainer Julian Nagelsmann zur unangefochteten Nummer 1 bei der EM machte, fand ich geradezu empörend und widersprach jedem Leistungsgedanken. Er hat dann ein ordentliches Turnier absolviert. Keine gravierenden Fehler, keine „Unhaltbaren“, die er entschärfte. Bei den Gegentoren eher schuldlos, in seinen besten Zeiten hätte er Dani Olmos Schuss zum 0:1 im Finale wohl gehalten.

Manuel Neuer ist in Deutschland sankrosankt, alle überbieten sich in Lobeshymnen über den besten Torwart aller Zeiten. Dass er ein toller Schlussmann war, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Ob er wirklich der beste aller Zeiten war, vermag ich nicht zu urteilen, denn die Jaschins, Zamoras habe ich gar nicht gesehen, und ich persönlich wage keine Rangliste allein in Deutschland zwischen Sepp Maier, Oliver Kahn und eben Neuer. Wohl dem, der sich da ein Urteil erlaubt.
Jedenfalls hat nicht nur meiner Meinung nach Neuer seine besten Tage schon länger hinter sich. Die würde ich in der Zeit zwischen 2010 und etwa 2017 sehen, als er wirklich grandiose Leistungen zu Hauf ablieferte und die Stürmer mit seiner mächtigen Erscheinung in Schockstarre versetzte. Aber auch hier: Erhöhung. Denken wir ans WM-Finale 2014, als er nach einem heftigen Check gegen Higuain eine Elfer plus Rot kassieren hätte müssen, aber von einem tomatenblinden Schiri profitierte. https://www.youtube.com/watch?v=vuLkOgVpT98

Jetzt also ohne Neuer. Wahrscheinlich ist dessen nicht ganz so freiwillig und großmütig. Ich glaube, dass Nagelsmann durchaus mit ihm weitergemacht hätte. Die EM gab kaum Anlass zu einer Änderung seiner Torwart-Rangliste. Aber er brauchte ein klares Bekenntnis, denn die leidige Torwartfrage wollte er auf jeden Fall vom Tisch haben. Und da passte es überhaupt nicht, dass Neuer allenfalls grundsätzliche Bereitschaft signalisierte, bis zur WM 2026 weiterzumachen, aber schon mal die nächsten beiden Länderspiele im September nicht bestreiten wollte. So wird es zumindest von bestens informierten Kreisen kolportiert. Unmittelbar nach der EM hatte Neuer ja schon öffentlich gesagt, er würde sioh „bis zu einem halben“ Jahr für seine Entscheidung Zeit geben. Das war unzumutbar für alle Beteiligten, gerade für Marc-André ter Stegen, die designierte Nummer 1 und für mich seit Jahren (viel?) besser als Neuer. Erstaunlich genug, dass er so lange stillhielt. Man denke nur Uli Stein und den „Suppenkasper“ Beckenbauer 1986 bei der WM. Eines war auch klar: Neuer wäre bei seinem fanatischem Ehrgeiz eine verdammt unzufriedene Nummer 2 hinter ter Stegen gewesen. Den Tort wollte sich Nagelsmann verständlicherweise nicht antun.

Wie gesagt: Neuer war ein toller Torwart. Er das hat Spiel neu interpretiert mit seiner offensiven Art, Bälle schon außerhalb des Strafraums mit dem Fuß abzufangen. Seine technischen Fähigkeiten waren die eines Feldspielers ebenbürtig. Jetzt kann er sich auf „seinen“ FC Bayern konzentrieren, sein Vertrag läuft 2025 aus. Das Champions-League-Finale findet am 31. Mai in der Münchner WM-Arena statt. Ein erneutes „Finale dahoam“ wäre ein würdiger und angemessener Abschied aus dem absoluten Spitzenfußball.

 

Endlich! Ein Fußballfest

Schöne Spiele, noch bessere Stimmung

Seit knapp einer Woche läuft sie jetzt, die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland, vulgo: EURO. Und ich bin hellauf begeistert. Lange hab ich drüber sinniert, was ich diesmal so faszinierend finde und bin zu folgendem Ergebnis gekommen.

  1. Angriff ist Trumpf.
    Zumindest bei den meisten Teams. Vor allem auch die zu den Außenseiter zählenden Mannschaften versuchen, Tore zu erzielen. Wie die Albaner, die Georgier, um die beiden vielleicht größten Dark Horses des Turniers zu nennen. Zu den in dieser Hinsicht enttäuschenden Teams sind leider zwei absolute Favoriten, nämlich die Engländer und (nicht ganz so schlimm) die Franzosen. Diese auch offensiv  hochbegabten Mannschaften steckenfast schon in einem Zwangskorsett: vor allem hinten sicher stehen, und vorne auf einen Geniestreich warten der Hochbegabten, sei es Jude Bellingham oder Kylian Mbappé, Nase hin oder her. Das Traurige ist: Didier Deschamps und Gareth Southgate haben Erfolg mit ihrer Taktik, der an den zynischsten italienischen Catenacchio erinnert. Gott sei Dank sind die beiden Teams bisher die Ausnahme von der Regel. Wir sehen faszinierende Angriffskombinationen etwa der Georgier und vor allem auch der Deutschen. Und wer mich nur ein bisschen kennt: ich hab beim Fußball keine nationale Brille auf. Aber dieses Team, gerade mit den brillanten Offensivspielern Jamal Musiala und Florian Wirtz, macht schon Spaß. Und vor allem fantastische Weitschusstore sind die Kirsche auf der Torte
  2. Überwältigende Stimmung
    „Endlich ein Fußball-Fest“, habe ich getitelt. Nach der in dieser Hinsicht eher trostlosen WMs in Katar und auch Russland sowie der auch noch corona-geschädigten Paneuropa-EM wieder in ein Turnier in einem echten Fußball-Land. Schön in der Mitte des Kontinents, damit alle Fanscharen eine vergleichsweise kurze Anfahrt/Flug hatten. Die Folge sind umfassbar stimmungsvolle Partien mit begeisterten Fans, die, oh riesiges Wunder!, die Partien tatsächlich begleiten und nicht per furchtbar monotonen Sprechgesang ermorden. Wer hätte gedacht, dass es in der  Münchner Arena so laut zugehen kann wie gerade bei Serbien vs Slowenien. Großer Ärger über mich selbst, dass ich die möglichkeit eines Kartenerwerbs nicht genutzt habe. Bei manchen Spielen flog sprichwörtlich das Dach weg wie bei Türkei vs Georgien in Dortmund. Die Fans aller Länder haben riesigen Anteil am Fußballfest.
    Umso trauriger, dass die Fans Leidtragende der maroden Deutschen Bahn sind. Haarsträubende Geschichten von gestrandeten Fans in Bahnhöfen etc wg nicht fahrender Züge machen die Runde. Es sind Systemfehler als Folge eines jahrzehntelangen Verkehrsversagens seitens des Bundes und der Länder. Kaputtgespart: zu wenig Züge, zu wenig Personal, zu wenig Wartung – es ist eine veritable Schande, und ganz Europa schaut nicht nur erstaunt zu, sondern leidet aktiv mit.

 

         Sportlicher Ausblick

Leider ist das Format mit den 24 Teilnehmern suboptimal. Denn letztlich scheiden vor dem Achtelfinale nur 8 Teams aus, und schon nach dem 2. Spieltag dürften einige Teilnehmer fix die K.-o.-Runde erreicht haben. Gerade dieser unselige Rückgriff auf die 4 „besten Dritten“ ist fatal, weil hier nicht Vergleichbares verglichen wird mit dramatischen Auswirkungen, nämlich Weiterkommen oder Ausscheiden. Die Teams in einer sog. schweren Gruppe sind doppelt gestraft. Abhilfe? Macht doch gleich 32 Teams mit acht Vierrergruppen, und jeweils zwei tEams kommen weiter.

         Und sonst?

Ein paar Anmerkungen zum deutschen Team: Die erste Elf steht, und die muss keinen Vergleich scheuen. Was längst nicht heißt, dass sie jetzt auch in der K.-o.Runde durchcruisen. Aber gerade Musiala und Wirtz, aber auch Gündogan, Kroos und die Innenverteidiger Rüdiger und Tah lassen die Erwartungen hochschnellen.Und Mittelstädt ist die positive Überraschung auf der linken Abwehrseite.

Aber Manuel Neuer fehlt bei meiner Aufstellung?

Ja – gegen die herrschende, ja fast allgemeine Meinung hierzulande bin ich längst nicht überzeugt von ihm. Nehmen wir das gestrige Spiel gegen Ungarn. Geradezu hymnisch wurde Manuel Neuer gelobt, als er den scharfen Freistoß von Szobozlai abwehrte und auch den Nachschuss reaktionsschnell entschärfte. Doch das war kein „Unhaltbarer“ wie alle jubelten, sondern ein Ball, den ein guter Torwart wie Neuer einfach haben muss. Und zwar im Idealfall entweder festhält oder wenigstens nicht nach vorne abwehrt, wo ein Nachschuss droht. Gleiches haben wir dann kurz vor der Halbzeit beim (klaren) Abseitstor der Ungarn gesehen. Wieder eine Abwehr zurück ins Feld, wo dann ein Ungar abstauben konnte. Und der haarsträubende Fangfehler kurz vor Ende war anfängerhaft und nur wegen Kimmichs Rettungstat auf der Linie ohne Folge. Und was macht etwa die tz? Gibt die Note 1 (überragend). Auch fast alle anderen Medien überhöhen die Rettungstat zum Heldenepos (Unser Manu ist wieder der Alte) und bagatellisieren die Fehler. Manu unangreifbar, Kritik ist Gotteslästerung.
Nicht falsch verstehen: Jetzt ist es zu spät für einen Torwartwechsel. Augen zu und hoffen, heißt es für die deutschen Fans, ter Stegen hin ode her.